Stellen Sie sich vor, Sie sitzen in einem Bewerbungsgespräch. Der Personaler lehnt sich mit einem siegessicheren Lächeln zurück und fragt: “Sind Sie eher ein ENTJ oder ein ISFP?” – als hinge Ihr zukünftiges Gehalt davon ab. Oder schlimmer noch: Sie scrollen durch LinkedIn und sehen, dass sich Kandidaten in ihren Profilen als „strategischer Visionär (ENTJ) mit der Empathie eines INFJ“ bewerben. Da fragt man sich: Ist das noch ein Bewerbungsgespräch oder doch schon die digitale Version eines Horoskops?

Von Astrologie zu Algorithmus-Psychologie

Der Myers-Briggs-Typenindikator (MBTI) hat sich in der Welt der Personalauswahl und Selbstdarstellung als eine Art moderner Sternzeichen-Generator etabliert. Anstatt in Waage, Skorpion oder Steinbock einzuteilen, bekommt man hier eine schicke Buchstabenkombination: ENTJ, INFP, ESFP – klingt wichtig, oder? Unternehmen nutzen diese Tests, um das „wahre Ich“ eines Bewerbers zu entschlüsseln, als ließe sich Führungstalent oder Teamfähigkeit anhand eines Multiple-Choice-Fragebogens bestimmen.
Aber mal ehrlich: Wer antwortet bei solchen Tests nicht so, wie es am besten klingt? Kein Bewerber klickt freiwillig auf „Ich bin konfliktscheu und arbeite am besten allein in dunklen Kellerräumen“. Stattdessen ist man natürlich „visionär“, „dynamisch“ und „teamorientiert“ – selbst wenn man eigentlich schon beim Gedanken an die Weihnachtsfeier eine Panikattacke bekommt.

Die LinkedIn-Persönlichkeits-Show

Aber nicht nur Unternehmen sind MBTI-Gläubige – nein, auch LinkedIn ist mittlerweile verseucht von Persönlichkeits-Testgläubigen. Da schmücken sich selbsternannte Thought Leader mit ihren Buchstabenkürzeln, als seien sie geadelte Ritter des Business-Knigge. Wer es richtig drauf hat, kombiniert gleich noch ein paar Trend-Buzzwords:
„INFJ | Visionary Leader | Growth Mindset | AI Enthusiast“
Klingt beeindruckend, oder? Nur blöd, dass es genauso generisch ist wie jede andere Selbstbeschreibung auf LinkedIn. Man könnte auch schreiben:
„Skorpion | Liebt Herausforderungen | Spirituell erleuchtet“
Der Effekt wäre derselbe – und vielleicht sogar ehrlicher.

Recruiting mit Persönlichkeitstests: Wissenschaft oder Hokuspokus?

Die Frage ist: Bringt dieser Test-Wahn überhaupt etwas? Wissenschaftlich betrachtet: eher nicht. Der MBTI ist psychologisch ungefähr so valide wie Kaffeesatzlesen. Er basiert auf C.G. Jungs Archetypenlehre, die zwar spannend ist, aber wenig mit empirisch fundierter Diagnostik zu tun hat.

Ein paar Probleme:

  • Binäre Denke: Die Tests zwängen Menschen in starre Kategorien. Introvertiert oder extrovertiert? Rational oder emotional? Dabei sind Menschen komplexer als ein Ja/Nein-Fragebogen.
  • Selbstauskunfts-Bias: Wer einen Job will, antwortet so, dass er gut rüberkommt. Wer auf LinkedIn glänzen will, sucht sich die „coolste“ Persönlichkeitsbeschreibung aus.
  • Keine Aussagekraft für den Job: Selbst wenn jemand als „strategischer Denker“ klassifiziert wird – heißt das, dass er auch wirklich eine gute Führungskraft ist? Eher nicht.

Fazit: Lassen wir das mit der Buchstabensuppe

Ob im Recruiting oder auf LinkedIn: Persönlichkeitstests wie der MBTI sind ein nettes Spielzeug, aber kein ernstzunehmendes Instrument. Sie helfen weder Unternehmen dabei, die besten Talente zu finden, noch Bewerbern, sich authentisch darzustellen.
Also, bevor Sie Ihr nächstes LinkedIn-Update mit einer fancy Persönlichkeits-Typenkombination versehen, denken Sie daran: Der beste Test für Ihre Qualifikation ist immer noch Ihre Leistung – nicht Ihr MBTI-Typ. Und falls doch, dann fügen Sie wenigstens noch Ihr Sternzeichen hinzu. Man weiß ja nie.