Als Personalberaterin stehe ich täglich vor einer großen Herausforderung: Die meisten meiner Kunden wünschen sich den „100%-Kandidaten“ – die ideale Besetzung mit perfekt passendem Skillset, relevanter Erfahrung und genau den richtigen Soft Skills. Doch wie oft stoßen wir dabei an finanzielle Grenzen? Die Gehaltsvorstellungen solcher Top-Kandidaten aus der freien Wirtschaft übersteigen häufig die Möglichkeiten der Unternehmen, insbesondere bei tariflich gebundenen Stellen.

Dieser Fachkräftemangel gepaart mit budgetären Einschränkungen wirft eine grundlegende Frage auf: Müssen wir immer den 100%-Kandidaten finden, oder ist es an der Zeit, den Blickwinkel zu ändern und auch Potenzialkandidaten zu betrachten, die vielleicht „nur“ 80% des Anforderungsprofils erfüllen?

1. 100%-Kandidaten: Wertvoll, aber zu welchem Preis?

Ein perfekter Kandidat, der alle fachlichen und persönlichen Anforderungen erfüllt, kann in der Tat den sofortigen Erfolg einer Abteilung maßgeblich beeinflussen. Ein solcher „Top-Match“ bringt nicht nur fachliches Know-how, sondern auch die erforderliche Selbstständigkeit und Erfahrung mit, um Projekte schnell und effektiv umzusetzen. Doch gerade diese Exzellenz hat ihren Preis. Die Gehaltsvorstellungen solcher Kandidaten sind oft für Unternehmen außerhalb der freien Wirtschaft schlichtweg nicht realisierbar.

Insbesondere in tarifgebundenen Bereichen gibt es enge Grenzen, die selbst mit Überzeugungsarbeit nicht übergangen werden können. Das betriebliche Gehaltsgefüge, sowie das Prinzip der sozialen Gerechtigkeit innerhalb eines Teams, sind Faktoren, die bei der Gehaltsfestlegung ebenso berücksichtigt werden müssen. So kann es passieren, dass der ideale Kandidat gefunden wurde, aber die Verhandlungen am Gehalt scheitern.

2. Den Blick für Potenzialkandidaten öffnen

In der Praxis sehe ich jedoch immer wieder: Es lohnt sich, den Fokus auf Kandidaten zu erweitern, die als „Potenzialkandidaten“ eingestuft werden. Dies sind Bewerber, die möglicherweise nicht alle Anforderungen zu 100% erfüllen, dafür aber eine solide Basis und den Willen zur Weiterentwicklung mitbringen. Ein „Potenzialkandidat“ mag vielleicht nur 80% des Anforderungsprofils abdecken, jedoch lassen sich die fehlenden Kompetenzen oft durch gezielte Einarbeitung und Weiterbildung ausgleichen.

Die Denkweise, dass jemand „fertig“ in eine Rolle eintreten muss, ist zwar in manchen Positionen (beispielsweise in sicherheitskritischen Berufen) berechtigt, doch in vielen anderen Bereichen ist ein Kandidat mit Lernbereitschaft und Anpassungsfähigkeit oft sogar wertvoller für das Unternehmen als ein „perfekter“ Match. Ein Potenzialkandidat bringt frischen Wind und die Motivation, sich im Unternehmen zu etablieren und zu wachsen – etwas, das auf lange Sicht zu höherer Loyalität und Engagement führen kann.

3. Potenzial statt Perfektion: Eine strategische Entscheidung

Natürlich stellt sich die Frage: Können wir es uns leisten, Kandidaten einzustellen, die nicht alle Anforderungen sofort erfüllen? In meiner Erfahrung lohnt es sich, differenziert auf die Muss- und Kann-Kriterien zu blicken. Wenn wir bei einer Stellenausschreibung kritisch hinterfragen, was wirklich unverzichtbar ist und was im Rahmen eines „Training on the Job“ erlernt werden kann, öffnen wir uns selbst eine viel breitere Auswahl an möglichen Talenten.

Hier einige zentrale Überlegungen:

  • Muss-Kriterien identifizieren: Was sind die Kernkompetenzen, die zwingend erforderlich sind? Dies sollten Anforderungen sein, ohne die ein Kandidat in der Position nicht erfolgreich sein könnte.
  • Kann-Kriterien flexibel gestalten: Kompetenzen, die nicht sofort notwendig sind, können als „Nice-to-Have“ deklariert werden. Wenn ein Kandidat die Basisfähigkeiten mitbringt und lernbereit ist, lassen sich diese Fähigkeiten oft mit Zeit und Geduld entwickeln.
  • Individuelle Potenziale erkennen und fördern: Eine fundierte Basis an Fähigkeiten und Kenntnissen, gepaart mit Persönlichkeit, Lernwillen und kultureller Passung zum Unternehmen, bietet oft bessere langfristige Chancen. Solche Kandidaten sind zudem oft motivierter und loyaler, da sie die Möglichkeit erhalten, sich innerhalb des Unternehmens weiterzuentwickeln.

4. Potenzialkandidaten im Bewerbungsprozess nicht übersehen

Die Fähigkeit, Potenzial zu erkennen, gehört zum wesentlichen Kern meiner Arbeit als Personalberaterin. In Bewerbungsgesprächen und Lebensläufen lassen sich Hinweise darauf finden, ob ein Kandidat das Potenzial mitbringt, sich in der vakanten Rolle zu entwickeln. Es ist oft eine Kombination aus Wissen, Haltung und Motivation, die eine gute Basis schafft. Unternehmen, die bereit sind, diesen Kandidaten eine Chance zu geben, werden häufig positiv überrascht: Oft führen sie nicht nur zu einer erfolgreichen Besetzung, sondern auch zu langfristiger Mitarbeiterbindung und einem neuen Blick auf interne Weiterbildung.

5. Fazit: Potenzialkandidaten als neue Perspektive

Der „perfekte“ Kandidat wird wohl immer der Wunschtraum vieler Unternehmen bleiben, aber nicht immer ist er die einzig richtige Antwort. Gerade in Zeiten knapper Fachkräfte und begrenzter Budgets kann es eine wertvolle Entscheidung sein, die Augen für Potenzialkandidaten zu öffnen und ihnen eine Chance zu geben. Unternehmen, die bereit sind, Potenzial über Perfektion zu stellen, schaffen nicht nur neue Wege zur Stellenbesetzung, sondern fördern auch eine Kultur des Wachstums und der Wertschätzung innerhalb ihrer Organisation.

Letztlich ist es unsere Aufgabe als Personalberater, diese Möglichkeiten aufzuzeigen und Unternehmen dazu zu ermutigen, den Blickwinkel zu erweitern. Nicht immer ist der 100%-Kandidat der beste Weg – manchmal ist der 80%-Kandidat mit Potenzial die passendere Wahl.

Liebe Leserin, lieber Leser, wie sehen oder praktizieren Sie das in Ihrem beruflichen Leben des Recruitings? Und welche Erfahrungen haben Sie in diesem Thema gemacht? Es wäre spannend, Ihre Meinung zu hören und Ihren Input zu erhalten.